Sonntag, 27. Juli 2014

4 €uro 40 Frank Castorf im Spiegel Nr. 30

Kann - sollte man heutzutage noch den SPIEGEL kaufen, das einst für seine kritische intellektuelle Tendenz bekannte Wochenmagazin? Der Aufmacher der letzten Ausgabe war ein sog. "Streitgespräch" mit Ex-Bundespräsident Christian Wulff. Diesem Mann, der perfekt Ehrgeiz, Mittelmaß, Political Correctness und Langeweile verkörpert(e), werden incl. Cover acht (!) Seiten eingeräumt. Motto: "Diese Häme bringt uns um". Der Arme! Da sondert man glatt eimerweise Krokodilstränen aus. Angeblich bedeutete sein Sturz "eine Gefahr für die Demokratie". Demokratie? Schönes Wort. Was meint Herr Wulff damit? - Ein weiterer Tief- bzw. nein: da literarisch ausgefeilt und äußerst raffiniert geschrieben: Höhepunkt der Ausgabe ist der Dirk Kurbjuweit-Essay "Die aufgeklärten Kerle" über die neuen Fußball-Weltmeister. Der neue homo fußballicus passt sich nahtlos ins Ideal-Bild des Gutmenschen ein: Erfolgreich, geschmeidig, geschäftstüchtig, frauenfreundlich, PR-bewusst. Der neue homo fußballicus ist selbstverständlich auch im höchsten Maße political correct. Autor DK ist ein Meister des Schönredens. Wir Deutschen wollen und sollen mit positiven Eigenschaften auffallen und Maßstäbe setzen. Für Neid, Häme, Misstrauen, Skepsis, Intrigen soll kein Platz mehr sein. Pfui! Ich bin aber neidisch und skeptisch. Weil eh schon verwöhnten €-Millionarios eine derartige Bedeutung zuge-standen wird. Ein Gallönchen Häme über Kurbjuweit… Inhaltlich bin ich ganz anderer Ansicht, aber von seinem Stil kann Mensch lernen.  ** Der SPIEGEL weiß, daß mit Langeweile und Political Correctness allein die Quote nicht gehalten werden kann, deshalb lotst er immer mal wieder  inte-ressante und spannende Interviews in seinen Warenkorb. In diesem Fall ein Gespräch mit dem Regisseur Frank Castorf. Für diesen Beitrag hat sich mein Geld gelohnt: "Meine Grundtechnik ist: Zerschlagen". Es geht um Castorfs Engagement bei den Bayreuther Festspielen.  Die Festival-Leitung mischt sich, an Quote orientiert, in seine Arbeit ein. Der Regisseur war 2013, obschon im letzten Jahr für den "Ring der Nibelungen" ausgebuht, währenddessen auf der Bühne geblieben und hatte "dem Publikum Grimassen " geschnitten. "Warum?" fragt der SPIEGEL. Castorf: "Mein Ring dauert insgesamt 17 Stunden. Während dieser Zeit sind die Zuschauer eine Liebesbeziehung mit mir eingegangen. Die hatten das Recht dazu, ihren Hass auszutoben. Mir selbst hat das eine ungeheure Kraft gegeben, dort zu stehen und diesen Menschen in die Gesichter zu sehen. Viele hatten Triller-pfeifen mitgebracht. Das ist doch ein Zeichen." In diesem Jahre sehe einiges ganz anders aus, schätzt C. die Situation ein. "Ich merke, daß all die Anarchie, die mein Bühnenbildner Aleksandar Denic und ich hier vergangenes Jahr reingebracht haben, nicht mehr erwünscht ist. 2013 gab es eine ungeheure Unterstützung, gerade die Sänger waren begeistert bei der Sache. Aber jetzt geht es der Festspielleitung nur noch um Absicherungsinteressen, um den Machterhalt. man zwingt mich, einen Kampf zu kämpfen, der mich blöde macht". … "Ich habe … über Umwege erfahren, dass ein Sänger, der mir wichtig ist, umbesetzt wird. Dieser Sänger … ist einer, der musikalisch wirklich gut ist und der nicht dauernd nur bemüht ist, Fehler zu vermeiden, Fehler, die für mich hoch erotisch sind und sinnlich musikalisch. Er hat eine ungeheure spielerische Qualität … Dann ist das schöne Singen wieder angesagt, der richtige Ton, das Arrangement, die Choreografie. All das, was wir hier nie machen wollten. SPIEGEL: "Ihr Programm ist es, alles Behagliche zu bekämpfen?" Castorf: "Wir haben versucht, gegen die Rhythmen und gegen die Tempi zu arbeiten. Wir wollen durch eine andere Informationsebene vordringen zu der Geschichte, die wir erzählen. Aber wenn ich jetzt in den Bühnenorchesterproben sitze, dann bemerke ich plötzlich einen schrecklichen Gleichklang im Rhythmus, im tempo, im Licht und im Spiel der Sänger. Es ist Stadttheater in aller Schönheit entstanden, Furchtbar. Die Stürme haben sich gelegt, die Langeweile hat gesiegt." SPIEGEL: "Woran liegt das?" Castorf: "Die Frage ist doch: Sind wir in der Gesangsakademie, wo das Singen beurteilt wird? Sind wir an einem Ort, wo ich als Regisseur nur der hoch bezahlte Inszenator eines Konzerts in festlicher Abendkleidung bin, bei dem Belcanto geboten wird?…" usw usw Der Regisseur bringt in diesem auf 3 SPIEGEL-Seiten abgedruckten Gespräch Gedanken und Zielvorstellungen auf den Tisch, die aufregend und anregend sind, die mich begeistern. Weil sie den Rahmen des Konventionellen sprengen. Und der Regisseur hat die Kraft und das Format, seinen Nonkonformismus in aller Öffentlichkeit zum Ausdruck zu bringen. Der Mann ist ein kreatives Genie. - Für dieses Interview hat sich der Kauf des Heftes dann doch gelohnt. --- 


**RS**
         

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