Freitag, 20. Januar 2012

Franco Basaglia : Die negierte Institution



Der komplette Titel ist „Die negierte Institution oder Die Gemeinschaft der Ausgeschlossenen – Ein Experiment der psychiatrischen Klinik in Görz – Herausgegeben von Franco Basaglia“. Ich erstand das Buch für 1 € auf dem Flohmarkt. Görz liegt im Nordwesten Italiens in der Nähe zur jugoslawischen (heute: slowenischen) Grenze. Das Experiment, von dem die Interviews, Aufsätze, Statements und Berichte künden, passierte Ende der 60-er Jahre des vorigen Jhdt.’s. In der erwähnten Klinik wurden nach und nach die strengen Regeln aufgelockert, die die Kranken, die eigentlich Therapie brauchten, zu Gefangenen machten. Aus Eingesperrten wurden Freigänger. Auch die letzte geschlossene Abteilung in Görz wurde schließlich als solche aufgelöst – ihre Bewohnerinnen bekamen freien Ausgang wir die anderen auch. * Dieses erfolgreiche Experiment (das zeigte, daß möglich war, was jahrhundertelang als undenkbar gegolten hatte) löste ein breites Echo aus. Auch anderswo, z.B. in Deutschland, wurden „Irrenanstalten“ (das Wörtchen wurde aus Gründen der political correctness indiziert = quasi verboten) und die darin herrschenden Verhältnisse kritisiert. Die „Anti-Psychiatrie“ als politische Bewegung und Gegenmacht wurde gegründet. In Hamburg entstand 1971 u.a. der AK ’71 (Aktionskreis 71), dessen Kern aus ehemaligen Psychiatrie-Patienten und Helfern und Freunden bestand. * Zu den kompetenten Kritikern der Psychiatrie gehörten u.a. der fran-zösische Schriftsteller und Philosoph Michel Foucault, der englische Psychiater Ronald Laing (Das geteilte Selbst“, „Das Selbst und die Anderen“ u.a. Werke), David Cooper („Der Tod der Familie“ u.a.), Alexander Mitscherlich („Der Kranke in der modernen Gesellschaft“ u.a.), Klaus Dörner (der in der Hamburger Uni-Klinik arbeitete und den auch einige AK 71-Mitglieder kannten. * Die antipsychiatrische Bewegung entwickelte keine Patent-Rezepte zur „Heilung“ von Kranken und zur generellen Auflösung von Anstalten. Sie beruhte vor allem darauf, daß Menschen sich auf stigmatisierte und als „unheilbar“ geltende Geisteskranke einließen, d.h. auf konkrete Menschen und konkrete Situationen. In einem längeren Prozeß, der stets, seitens der Psychiater und anderen Ärzte, Pfleger usw. auch als Selbsterfahrung erlebt und reflektiert wurde, wurde gleichzeitig nach Alternativen gesucht. Auch wenn die Antipsychiatrie als „breite Bewegung“ aufgefasst und interpretiert wurde, lebte sie von de-zentralen Experimenten und Versuchen, die möglichst konkret auf die jeweiligen Orte, Bedingungen, Menschen reagierte. * Das Thema ist heute nicht sehr aktuell, jedenfalls nicht –anders als in den 70-er Jahren- in linken Gruppierungen. Mich berührt das Thema auch heute, da ich häufig mit psychisch Kranken, Neurotikern wie Psychotikern, zu tun habe. Als junger Mann las ich neben Gedichtbänden und „Underground“- und Literatur-Zeitschriften auch Bücher von Laing, Cooper („Der Tod der Familie“) u.a. * Mein – UNSER Protest damals „gegen die Zustände in den Anstalten“ war stark moralisch motiviert. Wir machten uns wenig Gedanken darüber, welchen Personal-Aufwand die Auflösung von Geschlossenen Anstalten auch bedeutet. Heute besuche ich noch ab und zu einen ehemaligen Genossen in einer geschlossenen forensischen Abteilung. (Wikipedia bietet viele Informationen zum Thema) - Das Buch erschien 1971 bei Suhrkamp als Taschenbuch, ist nur noch antiquarisch erhältlich. * R.S. 20.1.2012

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