Sonntag, 24. November 2013

Kerstin Kempker : Teure Verständnislosigkeit

Bezüglich der Institution Psychiatrie gibt es verschiedene kritische Positionen. Am bekann-testen waren bis ca. in die frühen Neunziger Jahre jene, die ihre Argumente u.a. von David Cooper, Michel Foucault, Erving Goffmann, Ronald Laing und anderen Philosophen und Sozial-wissenschaftlern bezogen. Als sei deren ablehnende Haltung noch nicht spezifisch genug, zitiert Kerstin Kempker in „Teure Verständnislosigkeit – Die Sprache der Verrücktheit und die Entgegnung der Psychiatrie“ Dichter wie Antonin Artaud, Ingeborg Bachmann, Robert Walser, Paul Celan, Sylvia Plath, Unica Zürn. So erweitert sie den schon komplexen und heterogenen literarischen Chor der Psychiatrie-Gegner um weitere feine, individuelle Stimmen. Von einigen der Genannten ist bekannt, daß sie selber kurze oder längere Zeit in Anstalten verbrachten. Diese als Kronzeugen in den Diskurs Geführten machen die Argumentation gegen die Psychi-atrie insgesamt reicher. Zu einer Lösung des Problems führen sie jedoch nicht. Alternativen zu entwickeln ist noch etwas ganz anderes als auf Mißstände hinzuweisen. Einige der von Kemp-ker zitierten Dichter begaben sich aufgrund ihres Leidensdrucks, Suizidgefahr usw. von sich au-s in psychiatrische Obhut. Letztlich kann es jeden treffen, und tatsächlich werden besonders häufig kreative, hochbegabte, intelligente, sensible Menschen Opfer ihrer persönlichen Ge-schichte und der Verhältnisse. Sie werden stigmatisiert, ausgegrenzt, erkranken psychisch ... Einige werden zu Psychiatrie-Insassen, andere wiederum kommen mit ambulanter Behand-lung davon, etliche halten sich mit Poesie und anderer Kreativität „über Wasser“ und am Leben. Es wäre zu untersuchen, weshalb die viele Jahre lang starke Anti-Psychiatrie-Bewegung praktisch zum Erliegen gekommen ist. Ich glaube, dies hat verschiedene Gründe. Ich meine u.a., daß die mit viel Klugheit, Engagement, Idealismus und Glauben gewappneten Psychiatrie-Gegner sich u.a. nicht im Klaren darüber waren, daß die „Abschaffung“ der Psychiatrie nur ein Schritt sein könnte. Der nächste wäre, rein logisch betrachtet, die aus der Institution Entlassenen wenn nicht zu „heilen“, so doch wenigstens zu „betreuen“. Es gibt heute reforme-rische Ansätze. Revolutionäre Parolen sind verschwunden. Die Zustände in einigen hiesigen psychiatrischen Einrichtungen haben sich seit den 70-er und 80-er Jahren sehr gewandelt. Zumindest „rein äußerlich“. Es deutet jedoch nichts darauf hin, daß sie jemals völlig überflüssig würden. Auch künftig werden besonders begabte, feinfühlige, geistreiche, intel-ligente, kreative Menschen in Anstalten landen und leiden. Es werden auch nach wie vor individuelle Wege gegangen bzw. entwickelt werden, den Leidensdruck gering zu halten und trotz allem das Beste aus dem Leben zu machen. Die Möglichkeiten von Kunst und Kreativität sind unendlich. ** Das Buch von Frau Kempker erschien 1991 im „Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag“. Ich erstand es für einen €uro auf einem Bücherflohmarkt.  **RS**   



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