Bezüglich der Institution Psychiatrie gibt es
verschiedene kritische Positionen. Am bekann-testen waren bis ca. in die frühen
Neunziger Jahre jene, die ihre Argumente u.a. von David Cooper, Michel Foucault, Erving Goffmann, Ronald Laing und
anderen Philosophen und Sozial-wissenschaftlern bezogen. Als sei deren
ablehnende Haltung noch nicht spezifisch genug, zitiert Kerstin Kempker in „Teure Verständnislosigkeit – Die Sprache
der Verrücktheit und die Entgegnung der Psychiatrie“ Dichter wie Antonin Artaud, Ingeborg Bachmann, Robert Walser, Paul Celan, Sylvia Plath, Unica Zürn.
So erweitert sie den schon komplexen
und heterogenen literarischen Chor der Psychiatrie-Gegner um weitere feine,
individuelle Stimmen. Von einigen der Genannten ist bekannt, daß sie selber kurze
oder längere Zeit in Anstalten verbrachten. Diese als Kronzeugen in den Diskurs
Geführten machen die Argumentation gegen die Psychi-atrie insgesamt reicher. Zu
einer Lösung des Problems führen sie jedoch nicht. Alternativen zu entwickeln ist noch etwas ganz anderes als auf
Mißstände hinzuweisen. Einige der von Kemp-ker
zitierten Dichter begaben sich aufgrund ihres Leidensdrucks, Suizidgefahr usw.
von sich au-s in psychiatrische Obhut. Letztlich kann es jeden treffen, und tatsächlich werden besonders häufig kreative,
hochbegabte, intelligente, sensible Menschen Opfer ihrer persönlichen
Ge-schichte und der Verhältnisse. Sie werden stigmatisiert, ausgegrenzt,
erkranken psychisch ... Einige werden zu Psychiatrie-Insassen, andere wiederum
kommen mit ambulanter Behand-lung davon, etliche halten sich mit Poesie und
anderer Kreativität „über Wasser“ und am Leben. Es wäre zu untersuchen, weshalb
die viele Jahre lang starke Anti-Psychiatrie-Bewegung praktisch zum Erliegen
gekommen ist. Ich glaube, dies hat verschiedene Gründe. Ich meine u.a., daß die
mit viel Klugheit, Engagement, Idealismus und Glauben gewappneten
Psychiatrie-Gegner sich u.a. nicht im Klaren darüber waren, daß die „Abschaffung“
der Psychiatrie nur ein Schritt sein könnte. Der nächste wäre, rein logisch
betrachtet, die aus der Institution Entlassenen wenn nicht zu „heilen“,
so doch wenigstens zu „betreuen“. Es gibt heute reforme-rische Ansätze. Revolutionäre
Parolen sind verschwunden. Die Zustände in einigen hiesigen psychiatrischen
Einrichtungen haben sich seit den 70-er und 80-er Jahren sehr gewandelt. Zumindest
„rein äußerlich“. Es deutet jedoch nichts darauf hin, daß sie jemals völlig überflüssig
würden. Auch künftig werden besonders begabte, feinfühlige, geistreiche,
intel-ligente, kreative Menschen in Anstalten landen und leiden. Es werden auch
nach wie vor individuelle Wege gegangen bzw. entwickelt werden, den
Leidensdruck gering zu halten und trotz allem das Beste aus dem Leben zu
machen. Die Möglichkeiten von Kunst und Kreativität sind unendlich. ** Das Buch
von Frau Kempker erschien 1991 im „Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag“. Ich
erstand es für einen €uro auf einem Bücherflohmarkt. **RS**
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