Wieviele
Bücher las ich in diesem Jahre? Sechzig, siebzig? Eines davon, der neue
Essay-Band von Botho Strauß, ragt für
mich in besonderer Weise heraus. Beim Überfliegen des Titels „Lichter
des Toren“ könnte man denken,
es handele sich um ein Buch über Fußball. Wer den Untertitel „Der
Idiot und seine Zeit“ liest, versteht, daß nicht von einem Torwart
unter Flutlicht die Rede ist. Der Tor
ist eine altertümliche, poetische Bezeichnung für einen Verrückten, Narren,
nicht ganz Zurech-nungsfähigen. Das Wort Idiot
klingt vulgärer, aggressiver, eine handfeste Bezeichnung für einen, der nicht
mehr „alle Tassen im Schrank hat“. Ein Wort wie ein Stempel, der jemandem
aufgedrückt wird, von dem sich der Normalbürger entschieden abgrenzt. ** Botho
Strauß schöpft in seinen Essays und in diese eingestreuten Aphorismen
aus einem geradezu enzyklopädischen Wissen über die Geschichte, die Figur des Außenseiters,
ausgehend vom griechischen idiotes. Essay heißt „Versuch“. Es geht also nicht
um endgültige Klärung der Begriffe und des damit Gemeinten. Es geht auch nicht
um Rezepte, Hilfestellungen oder praktische Anleitungen für Außenseiter. Der
Autor führt uns in immer neuen Anläufen Denk- und Vorstellungs-Möglichkeiten
vor, als Anregung, Vorschläge, sich auf ungewohnte, neue, uns aus dem
Gesichtsfeld geratene Aspekte des Daseins einzulassen. Die Erzählstücke und
statementartigen Einlassungen wirken befremdlich. Auf den aber, der sich die Mühe macht,
sperrige Sätze und ungewohnte Sichtweisen aufzunehmen und auf sich wirken zu
lassen, sind sie faszinierend. Sie
üben einen Zauber aus. Manches verstehe ich nicht sofort. Strauß ist ein Meister
der großen Kunst, sich in einer rohen, scheinbar ungeschliffenen Sprache
auszudrücken. Das Glattgeschliffene rutscht mir beim Lesen schnell hinunter und
hinweg, wird verdaut und ebenso schnell ausgeschieden. Rohe Kost braucht
länger, um zersetzt und verdaut zu werden. So geht es mir mit einigen Passagen
in dem Buch. Es ist übrigens völlig unspektakulär, ja unscheinbar geschrieben.
Mitunter rätselhaft. Nicht in allen Kapiteln. Einiges klingt klar und leicht
verständlich. Provokant auch. Sehr provokant: Das lateinische provocare heißt
hervorrufen. Fast mühelos –das ist wieder große Kunst- provoziert d.h. ruft der
Autor etwas in mir hervor. Ein Alltags-Philosoph, der sich mit Wissenschaft,
Kunst und Religion auskennt. Auf Seite 40 lese ich: „Der Geist stirbt bekanntlich eher an zu viel Kommunikation als an zu
wenig. Valery war der reflektierteste Mensch seiner Zeit nicht aufgrund eines
unablässig regen „geistigen Austauschs“, sondern aufgrund der eiskalten
Isolation seines Denken“. Diese Buch „Lichter des Toren“ enthält etliche
Stellen und Abschnitte, die mir neue Sicht- und Denkweisen bescheren. So ein
Buch lege ich nicht weg, als „abgehakt“, sondern nehme es immer wieder mal in
die Hand. Und freue mich an der Poesie, dem Rätselhaften, der Klugheit und
mitunter Evidenz. ** Ausschnitte aus dem Buch fasste Botho Strauß
vor einigen Monaten zu einem Aufsatz zusammen, der im SPIEGEL abgedruckt wurde. Dazu drehte ich ein Video (siehe mein Post vom 14.8. (http://www.youtube.com/watch?v=C4Iqz47HH7g) **
Diederichs-Verlag, 176 Seiten,
**Raimund Samson**
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