Sonntag, 21. Januar 2018

Tagebücher Fritz J. Raddatz 2002 - 2012

In meiner katholisch-kleinbürgerlichen Erziehung galt "Petzen" = über Andere schlecht reden, als mindestens genauso schlecht wie das, was man "Schlechtes" über Andere sagte. Es gab aber noch eine Steigerung. Wenn man nämlich über die eigene Familie Indiskretionen verbreitete, "Negatives" erzählte, galt man als "Nestbeschmutzer". Das war ein absoluter Makel, ein unauslöschbares, unver-zeihliches Vergehen, das soziale Ächtung nach sich zog. Ein "Nestbeschmutzer" unterminiert seine eigene Lebensbasis, sägt sozusagen am Ast, auf dem er sitzt bzw. saß. .. und wenn er unten angekom-
men ist, kann der Ast -um bei dem Bild zu bleiben- nicht wieder Teil des Baumes zu werden. Und der, der darauf saß ? ...
Fritz J Raddatz (1932-2015) ist ein "Petzer" und "Nestbeschmutzer" der ärgsten Art - aber er tut dies mit so viel Können, Stil, Selbst- und historischem Bewußtsein, daß ich Hochachtung empfinde - mich geradezu begeistere für den Mann und seine Schreibe. Was wir -inklusive mir selber- als "heile Welt" (der Kindheit) bezeichnen und oft auch erleben, hatte Raddatz nicht. Seine Mutter starb bei der Geburt, zu seinem leiblichen Vater hatte er praktisch keinen Kontakt. Er wuchs mit einem brutalen Stiefvater auf, der ihn schlug und offenbar zu einem kernigen, echten Mann erziehen wollte. Dazu gehörte u.a., daß er den pubertierenden Fritz sexuell mit der eigenen Ersatz-Mutter zusammenbrachte. Als der Stiefvater des 15-jährigen starb, kam Raddatz unter die Vormundschaft eines 31-jährigen verheirateten Pastors, der ihn verführte und zu seinem Geliebten machte.
Diese Situation, d.h. sein Aufwachsen und Geprägtwerden unter schwierigsten Verhältnissen, fädelt der Autor immer wieder in die sein Arbeits- und Berufsleben reflektierenden Notizen ein. Raddatz war ein Schriftsteller, Feuilletonist und Intellektueller, der praktisch sein Leben lang in leitenden und gut dotierten Positionen arbeitete. Nähere Informationen darüber finden sich in den Büchern Raddatz', aber auch auf Internet-Seiten zB Wikipedia.
In meiner Besprechung hebe ich Psychologisches hervor - was nicht bedeutet, daß sie das Wichtigste an Raddatz sind bzw. waren. Die Bedeutung seiner Bücher, sein Lebensstil, sein äußerst umfang-reiches Wissen über Literatur und bildende Kunst werden von anderen Kritikern, Schriftstellern usw. gewürdigt.
Ich habe von den Dutzenden Büchern des Mannes nur ein paar gelesen. Ich fand sie alle gut, spannend. Und ich empfehle den Leser-innen meines Blogs, sich von den Qualitäten Raddatz' ein eigenes Bild zu machen durch Lektüre seiner Bücher.
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