Samstag, 17. März 2018

Martin Mosebach: "Die 21"

Ich erinnere mich an das Video, das 2015 seinen Weg durch die "social media" machte: 21 in orange-farbene Overalls gehüllte Männer, Gefangene des IS, werden, die Hände der Henker im Nacken, an einen Strand in Libyen geführt, um dort vor laufenden Kameras geköpft zu werden. Diese Männer, von denen bis auf einen alle aus dem Dorf El-Or in Ägypten stammten, waren koptische Christen. Sie hatten sich als Wanderarbeiter nach Libyen begeben, um dort Geld für ihre Familien zu verdienen. Ca. sechs Wochen lang wurden sie vom IS gefangen gehalten und geschlagen. Sie hätten die Möglichkeit gehabt, ihrem Glauben abzuschwören, taten dies aber nicht, sondern verrichteten in ihrer Gemeinschaftszelle täglich Gebete und sangen die Lieder ihrer christlichen Tradition. Dann das barbarische Ritual am Meer...  °° Der Schriftsteller Martin Mosebach, der bereits 2002 in Ägypten weilte und dort ein koptisches Kloster besuchte, fuhr im Frühjahr 2017 erneut in das Land, um die Angehörigen der Märtyrer zu besuchen und Näheres über ihre Leben zu erfahren. Sie waren zwischen

22 und 46 Jahre alt, die meisten in den Zwanzigern, einige von ihnen verheiratet. Mosebach erzählt sehr behutsam, unaufdringlich, ohne es an Genauigkeit fehlen zu lassen. Er spart auch die ästhetische Dimension des Geschehens nicht aus - nämlich bezüglich der Hinrichtungen, die von den IS-Killern in HighTec-Qualität aufgenommen wurden, um eine möglichst starke propagandistische Wirkung zu erzielen; zum anderen in Bezug auf Ikonenmalerei und andere Merkmale koptisch-christlicher Tradition. Nach den Hinrichtungen setzte ein Verehrungs-Kult ein. Den durch ihr Märtyrertum zu Heiligen Gewordenen wurden Ikonen gemalt und Kirchen gebaut. Zeitlebens waren sie eher bescheidene, unauffällige Gemeinde-Mitglieder gewesen - nun gehören sie zum Kanon der Heiligen. Ihre Familien leben damit. Der Alltag geht weiter. Das Video der Hinrichtungen ist bei den Angehörigen jederzeit greifbar, auch Kinder schauen es sich an. Wenn die IS-Killer gehofft hatten, die Spirale der Gewalt noch weiter hinaufzuschrauben, so haben sie sich bei den Familienange-hörigen getäuscht. Sie schwelgen nicht in Rache- oder Kriegs-Phantasien. 
Der Untertitel des Buchs lautet "Eine Reise ins Land der koptischen Märtyrer". Ich erfahre so auch viel Interessantes über die Geschichte der koptischen Christen, ihre Liturgie, ihr Verhältnis zum Land Ägypten. ° Im Kapitel "Ein Gespräch über das Martyrium" (S. 43-50) kommt die Haltung des säkularen, aufgeklärten Ägypten zum Ausdruck. Mosebach verdichtet sie in persona eines jungen Arabers, Sohn kommunistischer Eltern, der in London "ohne Berührung mit der Religion" aufwuchs, aber nach Kairo zurückkehrte, um eine Software-Firma zu gründen. Seine Abwehr gegen jede Art von Märtyrertum dürfte sich kaum von der unterscheiden, die bei uns gang und gäbe ist. 
          Ein Buch, das mich berührt.                     270 S., Rowohlt, Februar 2018, 20 €
                                                             °° RS °°  

Keine Kommentare: