Montag, 11. Oktober 2010

Nur geträumt? - Besuch in der "Neuen Schule e.V."

In HH-Rahlstedt gibt es seit 3 Jahren eine Schule, die von Popstar Nena gegründet wurde. Ich bewarb mich dort, weil ich als arbeitsloser Pädagoge und freier Künstler eine bezahlte Tätigkeit suche - fes-angestellt, als Honorarkraft oder wie auch immer. Eine Mitarbeiterin schickte mir eine supernette mail. 2 Wochen später rief mich ein Junge an, um mich zu einer Sitzung des "EK" (Einstellungs-Komitee) einzuladen. Ich machte mich auf den Weg, im Gepäck ein paar Theater-Figuren und Postkarten von Ausstellungen. Die Schule ist in einer alten Villa im Schimmelreiterweg untergebracht, das Haus von hohen Bäumen umstanden - eine feine Residenz, an die "Villa Kunterbunt" von Pipi Langstrumpf erinnernd. Das "Einstellungskomitee" bestand aus 7 bis 8 Kindern; außerdem nahmen 4 Erwachsene teil. Eine junge Frau blätterte in einem prall gefüllten Ordner mit Bewerbungen. Ich meinerseits packte Theater-Figuren und Ausstellungskarten aus und erzählte. Ich erwartete irgendwelche Fragen von den Kids - nichts. Ich erzählte weiter und hoffte erneut auf Fragen oder andere Reaktionen auf meine Puppen, Postkarten, Erzählungen. Wieder Fehlanzeige. Das überraschte mich. In meiner aktiven Zeit als Puppenspieler erlebte ich Dutzende von Schulen und Kindergärten. Auf Sprachlosigkeit stieß ich nie, dafür auf viel Begeisterung und bisweilen auch Skepsis bei älteren Schülern - verständlich bei einem Puppenspieler: "Das ist doch was für Babies" hieß es manchmal. Zu trinken gab es abgestandenes Leitungswasser. Naja, dachte ich, sie wollen offenbar sparen. Denn noch hat die "Neue Schule e.V." den Status einer Privat-Schule, noch gibt es keine öffentlichen Gelder. Netterweise machten zwei Mädchen mit mir einen Rundgang. Unterrichtsräume im üblichen Sinn gibt es nicht. Ich sah weder Schulhefte noch andere der in ähnlichen Einrichtungen üblichen Utensilien. Die Atmosphäre war nett und freundlich, aber auch spürbar reserviert. Den Kindern ging es offenbar gut - kein Wunder, wenn jede/ machen kann, was er will, kommen kann, wann er will. In einem Probenraum übte eine Band. Die Musik gefiel mir. Nach dem Rundgang führte ich ein Gespräch mit einem Lehrer. Er erzählte mir, daß nach der offiziellen Anerkennung die Gründung mehrerer Filialen in Hamburg geplant sei. Der Mann schwärmte von einem Prof Dr. der Neurologie, einem VIP, der sich offenbar mächtig dafür einsetzt, daß die Schule einen offiziellen Status erhält. Nur zu, dachte ich, wär doch prima! Einen Lern-Betrieb mal ganz anders aufziehen als normal üblich. Als Jugendlicher hatte ich in einem total verkopften Schulbetrieb wie ein Roboter Unterrichtsstoff pauken müssen und am Ende teilweise die Übersicht verloren. Es gibt nicht nur kognitives Wissen, sondern auch soziale und emotionale Intelligenz. Dafür, daß diese sich entfalten kann muß nur halt ein entsprechender Rahmen geschaffen werden. Statt harter Autorität spielerische Elemente in den Mittelpunkt stellen ... Als Fachmann für Rollenspiel -ich hatte einst meine Diplom-Arbeit zu dem Thema geschrieben- ging mir eine Fülle von Möglichkeiten durch den Kopf. I- ch sagte zu, ein loses Konzept zu schreiben - die Gegenseite versprach, "dialogisch" auf die Anregungen und Ideen einzugehen. Sie würden zwar nichts bezahlen, aber ich war bereit, auch kostenlos ein drei- oder vierwöchiges Praktikum zu absolvieren. Bei einem interessanten Projekt verzichte ich ausnahmsweise auf Bezahlung. - So schickte ich also ein paar Vorschäge und, zur weiteren Veranschaulichung, FotosDateien an die Schule, um in den anvisierten Dialog zu treten. Und warte bis heute auf eine Antwort. Ist es zu viel verlangt, eine kurze mail zu schicken? Ich erwarte keinen Brief-Roman ... Die Ursache für das Ausbleiben einer Antwort kann ich mir mit einer Hand ausrechnen. Die "Neue Schule e.V." wird mit Bewerbungen offenbar derart zugeschüttet, daß sie es nicht nötig hat, die einzelnen Probanden ernst zu nehmen. Sie haben genügend Auswahl, um je nach Lust und Laune Leute einzuladen. Die Kinder sind mit der Situation völlig überfordert. Ich kann ihnen nicht böse sein. In dieser Schule wird "demokratisch" darüber entschieden, mit vollem Stimmrecht der Kiddies, wer als Lehrer, Praktikant etc. eingestellt wird. Wie kann so etwas funktionieren? Die Kinder und Jugendlichen verfügen weder über die notwendigen Sach- noch Menschenkenntnisse, um solche Entschei-dungen fällen zu können. Am Anfang ist das "EK" eine lebendige Angelegenheit, spannend und neu, aber irgendwann wird sie zur Routine. "Hey, wir haben heute doch EK? Schau ich mir mal an. Besser als Grashalme zählen!" Bewerbungsgespräche als kostenloses Unterhaltungsprogramm? Es ist wie mit zu viel Spielzeug. Irgendwann verlieren die tollsten Angebote ihren Reiz. Der Fehler liegt nicht bei den SchülerInnen, sondern bei den Lehrern und sonstigen Verantwortlichen. Offenbar muß man ein VIP (very important person) sein, um ernst genommen zu werden. Die Verantwort-lichen der "Neuen Schule" schätzen Bewerber nach dem PR-Status ein, mit denen das Image der Einrichtung aufpoliert werden kann. In der Pop- und Glitzerwelt ist so etwas üblich - bei einer Schule finde ich so eine Haltung sehr befremdlich. Den Verantwortlichen dieses Schul-Experimentes sei ins Poesie-Album notiert: "Fördern heißt fordern. Grenzenloser Liberalismus führt zu grenzenloser Langeweile und hat nichts mit der gesellschaftlichen Realität zu tun, in die die SchülerInnen irgendwann entlassen werden: Täglicher Konkurrenzkampf, gnadenlose Auslese und Ausgrenzung derer, die nicht wettbewerbsfähig sind. Dem, der reichlich Geld hat, mag das egal sein. Was machen die anderen? Irgendwann sind die komfortablen Wohlfühltage vorbei." - Nena hatte Anfang der 80-er Jahre einen Klasse-Hit: "Nur geträumt". Träumen ist lebens-notwenig. Wenn es um eine Schule geht, zählen aber auch noch andere Dinge. Oder sollte ich meinen Bericht mit den Worten schließen "Na, dann träumt mal schön weiter"? Raimund Samson, LIP (little important person), Diplom-Pädagoge, Freier Künstler

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