Gregor Willing,
Gaesdonck
Paul
Ingendaay veröffentlichte 2006 im SchirmerGraf Verlag München das Buch „Warum du mich verlassen hast“. Das
500 Seiten-Werk ist ein Internats-Roman. Ich
las mit Neugier, weil ich selber, wenn auch etliche Jahre vor Ingendaay, auf die selbe katholische Internats-Schule ging, das
Collegium Augustinianum Gaesdonck (bei
P.I. „Collegium
Aureum“). Es liegt am Nie-derrhein, bei Goch (bei P.I. „Gleuyn“).
Abgesehen von einigen Namensänderungen gibt Ingen-daay die Realität jener Erziehungsanstalt, in der ich 8 Jahre meines Lebens
verbrachte, ziemlich genau wieder. Mit seinen Schilderungen des Atmosphärischen kann ich mich teilweise
identifizieren. Es löst in mir Gefühle aus, beklemmende Bilder steigen in mir
hoch, beklem-mende Erinnerungen. Mich interes-sierte vor allem die –neben dem Ich-Erzähler-
Haupt-Figur Bruder Gregor. Gregor war
ein katho-lischer Geistlicher, der im Internats-Alltag eine wichtige
erzieherische Funktion innehatte und außerdem im Schulbetrieb als Lehrer tätig
war. Er hieß im „wirklichen Leben“
Gregor Willing. Ende der 60-er Jahre unterrichtete er mich mehrere Jahre in
Religion und Philosophie. Die Geschehnisse liegen weit zurück, aber ich
erinnere mich. Es war etwas Besondere mit
„Willing“, wie er in meiner Klasse genannt wurde. Ich sehe ihn noch vor uns stehen, einen Mann mit massigem Schädel,
hoher Stirn, großen Augen. Er trug immer einen schwarzen Anzug, schwarze
Priester-Tracht – die Jacke schien etwas zu klein, die Hose knapp bemessen. Etwas an ihm wirkte unproportioniert. Aus dem
Gedächtnis versuche ich ihn zu zeichnen – naja ... Ich hatte über den
Unterricht hinaus mit dem Mann nichts zu schaffen. Ein paar Äußerungen habe ich
jedoch bis heute nicht vergessen. * Gregor
Willing erzählte im Unterricht davon, daß es in Südamerika eine Befreiungs-Theologie gebe. Das war
ungewöhnlich. Die Moral bzw. das „Ethos“ des Collegium Augustinianum war damals
erz- ja ultra-konservativ; so etwas
wie „Befreiungs-Theologie“ wurde
normalerweise totgeschwiegen, da es nicht auf dem offiziellen Lehr-Plan stand. Willing nahm seine erzieherische
Aufgabe ernst, er wirkte überhaupt fast
immer sehr ernst. Ich erinnere mich noch an eine andere Bemerkung, die kaum
zum Geist des Internats passte. Er erwähnte daß er „Respekt vor Atheisten“ habe. Den genauen Wortlaut weiß ich nicht mehr,
aber er meinte wohl: Atheisten setzen sich (immerhin) ernsthaft mit der Idee
Gottes und mit Religion auseinander. Das waren mutige Worte in einer Anstalt,
in der die SPD als „die Roten“ verschrien waren. Ca. 1968 wurde Günter Grass,
der seinerzeit für die SPD im Wahlkampf unterwegs war, eine kostenlose Lesung im
Internat verwehrt. Der Präses bezeichnete ihn als „Jugendverderber“. * Paul Ingendaay hat diesem Gregor Willing
alias Bruder Gregor mit seinem Roman „Warum du mich verlassen hast“ ein
Denkmal errichtet. Es geht in dem Buch um zwei Erlebnisse des Verlas-senwerdens.
Zum einen um die Scheidung der Eltern des Ich-Erzählers, die diesen in eine
Krise stürzt. Das andere Verlassen
betrifft die Tragödie, die persönliche Katastrophe des Bruder Georg. Er beging –im Roman wie im
„wirklichen Leben“- Selbstmord. Es muß ca. Ende der 80-er jahre gewesen sein. Ingendaay beschreibt die näheren
Umstände aus der Sicht des Ich-Erzählers. Ich gehe davon aus, daß er minutiös
recherchierte. Ingendaay sah den Toten, der sich im Internat erhängte,
vermutlich nicht selber, da er zum Zeitpunkt des Todes das Internat längst als
Abiturient (?) verlassen hatte. Aber er gibt die näheren Umstände sehr
glaubhaft wieder. Er schildert, wie der Tote von Schülern entdeckt wurde – und wie
unmit-telbar danach von der Internatsleitung die Todesursache systematisch
verschleiert wurde. Ich las damals regelmäßig die jährlich erscheinenden
Ausgaben des Internats-Kompendiums. Darin
wurde der Tod des Geistlichen als „Unglück“ beschrieben – für mich eine
Beschönigung. Das war für mich –neben der persönlichen Katastrophe eines
Menschen- der eigentliche Skandal. Die tatsächliche Todesursache erfuhr ich von
einem Mitarbeiter des Collegium Augus-tinianum. *** Gregor Willing war –erfahre
ich durch den Roman- ein sehr belesener (gebilde-ter) und zudem äußerst empfindlicher
Mensch. Ich vermute, er hielt es irgendwann nicht mehr aus, sich Tag für Tag
bei einer schwierigen Arbeit aufzureiben und aufzuopfern, im Dienst einer höheren
Macht – die nur Gehorsam von ihm forderte. Tagein tagaus wird in der
katho-lischen Kirche von Liebe geredet, Liebe gepredigt, Nächstenliebe,
Gottesliebe, Feindes-liebe, das höchste Gebot ist die Liebe ... – aber wer liebte diesen Mann, der die höchsten Gebote
zu leben versuchte? * Ich empfehle das Buch Ingendaays, der Mann erzählt recht
munter; der Autor bringt das Kunststück fertig, ein trauriges, „schwieriges“
Thema in einen unterhaltsamen Rahmen zu packen. Dazu gehört eine Menge
Empathie. Am Collegium Augustinianum Gaesdonck war eine Menge mies und
beschissen. Aber offenbar lernen dort manche Menschen Einfühlungsvermögen. Dieses Buch scheint mir ein Beweis dafür zu
sein. * 506 Seiten, ISBN 3-86555-025-8,
SchirmerGraf-Verlag *R.S.*
2 Kommentare:
Ich war Schüler auf der Gaesdonck bis 1981 und habe Herrn Willing erlebt. Er war sicher ein empfindsamer Mensch. Doch muss ich sagen, dass ich auch andere Erlebnisse habe. Als Erstes wurden beim Eintritt in "sein" Haus Kapitol beim Kennenlern-Gespräch diverse Elektroschock-Spielchen ausgeführt. Man bekam kleine Spielzeuggeräte in die Hand gedrückt, die kleine Stromschläge abgaben. Desweiteren hab ich ihn einmal mitten in der Nacht auf dem Flur der Schlafzimmer entdeckt, versteckt vor einem Eingang zu einem der Zimmer. Es war stockdunkel auf dem Flur. Das war eine sehr unheimliche und skurrile Begegnung. Er hat mich nicht angesprochen, nichts gesagt, wohl denkend ich sähe ihn nicht. Es wird nicht erwähnt, dass bevor er sich umbrachte eine Berufung als Präses zum Internat der Lohburg erfolgt war. Kurz danach kam der Suizid. Das ist, glaube ich, keine ganz unerhebliche Tatsache. Im Übrigen wurde mir erzählt, dass eine Putzfrau ihn gefunden hätte und nicht ein Schüler. Das scheint mir auch eher realistisch. Josef Horst
Willing war immer skuril
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