Montag, 12. November 2012

Gregor Willing, Gaesdonck


Gregor Willing, Gaesdonck

Paul Ingendaay veröffentlichte 2006 im SchirmerGraf Verlag München das Buch „Warum du mich verlassen hast“. Das 500 Seiten-Werk ist ein Internats-Roman. Ich las mit Neugier, weil ich selber, wenn auch etliche Jahre vor Ingendaay, auf die selbe katholische Internats-Schule ging, das Collegium Augustinianum Gaesdonck (bei P.I. „Collegium Aureum“). Es liegt am Nie-derrhein, bei Goch (bei P.I. „Gleuyn“). Abgesehen von einigen Namensänderungen gibt Ingen-daay die Realität jener Erziehungsanstalt, in der ich 8 Jahre meines Lebens verbrachte, ziemlich genau wieder. Mit seinen Schilderungen des Atmosphärischen kann ich mich teilweise identifizieren. Es löst in mir Gefühle aus, beklemmende Bilder steigen in mir hoch, beklem-mende Erinnerungen. Mich interes-sierte vor allem die –neben dem Ich-Erzähler- Haupt-Figur Bruder Gregor. Gregor war ein katho-lischer Geistlicher, der im Internats-Alltag eine wichtige erzieherische Funktion innehatte und außerdem im Schulbetrieb als Lehrer tätig war.  Er hieß im „wirklichen Leben“ Gregor Willing. Ende der 60-er Jahre unterrichtete er mich mehrere Jahre in Religion und Philosophie. Die Geschehnisse liegen weit zurück, aber ich erinnere mich. Es war etwas Besondere mit „Willing“, wie er in meiner Klasse genannt wurde. Ich sehe ihn noch vor uns stehen, einen Mann mit massigem Schädel, hoher Stirn, großen Augen. Er trug immer einen schwarzen Anzug, schwarze Priester-Tracht – die Jacke schien etwas zu klein, die Hose knapp bemessen.  Etwas an ihm wirkte unproportioniert. Aus dem Gedächtnis versuche ich ihn zu zeichnen – naja ... Ich hatte über den Unterricht hinaus mit dem Mann nichts zu schaffen. Ein paar Äußerungen habe ich jedoch bis heute nicht vergessen.  * Gregor Willing erzählte im Unterricht davon, daß es in Südamerika eine Befreiungs-Theologie gebe. Das war ungewöhnlich. Die Moral bzw. das „Ethos“ des Collegium Augustinianum war damals erz- ja ultra-konservativ; so etwas wie „Befreiungs-Theologie“ wurde normalerweise totgeschwiegen, da es nicht auf dem offiziellen Lehr-Plan stand. Willing nahm seine erzieherische Aufgabe ernst, er wirkte überhaupt fast immer sehr ernst. Ich erinnere mich noch an eine andere Bemerkung, die kaum zum Geist des Internats passte. Er erwähnte daß er „Respekt vor Atheisten“  habe. Den genauen Wortlaut weiß ich nicht mehr, aber er meinte wohl: Atheisten setzen sich (immerhin) ernsthaft mit der Idee Gottes und mit Religion auseinander. Das waren mutige Worte in einer Anstalt, in der die SPD als „die Roten“ verschrien waren. Ca. 1968 wurde Günter Grass, der seinerzeit für die SPD im Wahlkampf unterwegs war, eine kostenlose Lesung im Internat verwehrt. Der Präses bezeichnete ihn als „Jugendverderber“. * Paul Ingendaay hat diesem Gregor Willing alias Bruder Gregor  mit seinem Roman „Warum du mich verlassen hast“ ein Denkmal errichtet. Es geht in dem Buch um zwei Erlebnisse des Verlas-senwerdens. Zum einen um die Scheidung der Eltern des Ich-Erzählers, die diesen in eine Krise stürzt. Das  andere Verlassen betrifft die Tragödie, die persönliche Katastrophe des Bruder Georg. Er beging –im Roman wie im „wirklichen Leben“- Selbstmord. Es muß ca. Ende der 80-er jahre gewesen sein. Ingendaay beschreibt die näheren Umstände aus der Sicht des Ich-Erzählers. Ich gehe davon aus, daß er minutiös recherchierte. Ingendaay sah den Toten, der sich im Internat erhängte, vermutlich nicht selber, da er zum Zeitpunkt des Todes das Internat längst als Abiturient (?) verlassen hatte. Aber er gibt die näheren Umstände sehr glaubhaft wieder. Er schildert, wie der Tote von Schülern entdeckt wurde – und wie unmit-telbar danach von der Internatsleitung die Todesursache systematisch verschleiert wurde. Ich las damals regelmäßig die jährlich erscheinenden Ausgaben des Internats-Kompendiums. Darin wurde der Tod des Geistlichen als „Unglück“ beschrieben – für mich eine Beschönigung. Das war für mich –neben der persönlichen Katastrophe eines Menschen- der eigentliche Skandal. Die tatsächliche Todesursache erfuhr ich von einem Mitarbeiter des Collegium Augus-tinianum. *** Gregor Willing war –erfahre ich durch den Roman- ein sehr belesener (gebilde-ter) und zudem äußerst empfindlicher Mensch. Ich vermute, er hielt es irgendwann nicht mehr aus, sich Tag für Tag bei einer schwierigen Arbeit aufzureiben und aufzuopfern, im Dienst einer höheren Macht – die nur Gehorsam von ihm forderte. Tagein tagaus wird in der katho-lischen Kirche von Liebe geredet, Liebe gepredigt, Nächstenliebe, Gottesliebe, Feindes-liebe, das höchste Gebot ist die Liebe ... – aber wer liebte diesen Mann, der die höchsten Gebote zu leben versuchte? * Ich empfehle das Buch Ingendaays, der Mann erzählt recht munter; der Autor bringt das Kunststück fertig, ein trauriges, „schwieriges“ Thema in einen unterhaltsamen Rahmen zu packen. Dazu gehört eine Menge Empathie. Am Collegium Augustinianum Gaesdonck war eine Menge mies und beschissen. Aber offenbar lernen dort manche Menschen Einfühlungsvermögen. Dieses Buch scheint mir ein Beweis dafür zu sein.  * 506 Seiten, ISBN 3-86555-025-8, SchirmerGraf-Verlag   *R.S.*

1 Kommentar:

Josef Horst hat gesagt…

Ich war Schüler auf der Gaesdonck bis 1981 und habe Herrn Willing erlebt. Er war sicher ein empfindsamer Mensch. Doch muss ich sagen, dass ich auch andere Erlebnisse habe. Als Erstes wurden beim Eintritt in "sein" Haus Kapitol beim Kennenlern-Gespräch diverse Elektroschock-Spielchen ausgeführt. Man bekam kleine Spielzeuggeräte in die Hand gedrückt, die kleine Stromschläge abgaben. Desweiteren hab ich ihn einmal mitten in der Nacht auf dem Flur der Schlafzimmer entdeckt, versteckt vor einem Eingang zu einem der Zimmer. Es war stockdunkel auf dem Flur. Das war eine sehr unheimliche und skurrile Begegnung. Er hat mich nicht angesprochen, nichts gesagt, wohl denkend ich sähe ihn nicht. Es wird nicht erwähnt, dass bevor er sich umbrachte eine Berufung als Präses zum Internat der Lohburg erfolgt war. Kurz danach kam der Suizid. Das ist, glaube ich, keine ganz unerhebliche Tatsache. Im Übrigen wurde mir erzählt, dass eine Putzfrau ihn gefunden hätte und nicht ein Schüler. Das scheint mir auch eher realistisch. Josef Horst