Die Lebenserinnerungen bzw. „autobiografischen
Fragmente“ des Mitbegründers der DADA-Bewegung R. Huelsenbeck (1892-1974) erschienen posthum 1984 im Verlag
Lambert Schneider, Heidelberg. Der
Vorwortschreiber Horst Krüger nähert
sich dem Mann und seinem Werk scheinbar äußerst respektvoll, ja schwärmerisch,
aber dann relativiert er allzu hohe Erwar-tungen S.15: „Er war aber nicht das, was man hierzulande einen Dichter nennt. Man
kann sogar in Zweifel ziehen, ob man ihn in der Gilde der professionellen
Schriftsteller einreihen darf. Zu den großen Autoren seiner Epoche gehört er
mit Sicherheit nicht“. Mich ärgert, diese Einschätzung –anscheinend mit dem
Einverständnis der „Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung“ (S.13) -
bereits im Vorwort zu lesen. Nichts gegen Beurteilungen; die Frage ist jedoch,
wann und wo sie kommen. * Ich las „Reise
bis ans Ende der Nacht“ mit großem Interesse und erhielt eine Menge neuer Informationen,
sowohl über den Ich-Erzähler Huelsenbeck und seinen Werdegang, angefangen bei
seiner Kindheit und Jugendjahren, als auch über die DADA-Bewegung und die
wichtigsten Weggefährten. Zu ihnen gehörten u.a. Hugo Ball, Emmy Hennings, George Grosz, Hans Arp, Tristan Tzara, Marcel
Duchamp, Hans Richter. Huelsenbeck schreibt sehr klar und verständlich,
läßt immer wieder Anekedoten einfließen, sowohl über intime Lebensbereiche als
auch über politische Positionen. Ich bekomme ein anschauliches, gültigeres Bild
vom DADAismus als ich zuvor hatte. Weder strickt der Autor an alten Legenden
weiter noch schafft er neue. * Huelsenbeck emigrierte in den 30-er Jahren
mit seiner Familie auf der Flucht vor Hitler in die USA. Dort baute er als
Psychoanalytiker bzw. Psychi-ater eine neue Existenz auf. 1970 kehrte er nach
Europa zurück. Als Motiv nennt er: „Trotz
all meiner Liebe für die amerikanischen Ideale und trotz meiner Liebe für die
amerikanische Realität wurde ich kränker und kränker je erfolgreicher und
ordentlicher sich mein Leben gestaltete. (...) Ich wollte zu einer Art Chaos
zurückkehren, nicht ein Chaos, das umbringt, sondern ein Chaos, das der erste
Schritt zur Kreativität ist.“ * Huelsenbeck hat eine Menge zu sagen. Vieles
berührt mich per-sönlich. Über Hugo Ball berichtet
er, daß er mit Emmy Hennings in
Zürich das Cabaret Voltaire grün-dete und dem Anarchismus, vor allem Bakunin
nahe stand. Genaueres schreibt H. nicht, aber ich vermute, daß Ball sich am Frühwerk Bakunins orientierte. Da war
der Anarchist noch nicht Dogmatiker, sondern schrieb Texte mit quasi religiöser
Inbrunst. Vielleicht spürte Ball da eine Nähe oder Verwandtschaft. Er kehrte in
späteren Lebensjahren von seiner anarchistischen Haltung zu einem mystischen
Katholizismus zurück. * Zurück zum Buch.
Kapitel XV heißt „Als Emigrant in New York“.
Dort beschreibt Huelsenbeck u.a. ein Haus , in dem er lebte. Auf S. 258
lese ich: „Es gab hier zahllose Schwaben,
auch einige Wanzen. Sie lebten dort in sicherem Versteck seit vielen
Generationen. Die Schwaben liebten die Küche, sie krochen aus dem Abguß, ...“ 3
Seiten weiter heißt es „Abend für Abend
gingen wir mit Eimern kochenden Wassers auf Schwabenjagd...“ War hier ein
Witzbold („der Säzzer“?) am Werk, um zu demonstrieren, was man als
„dadaistische Manier“ bezeichnen könnte? Zweifellos waren nicht „Schwaben“,
sondern Schaben gemeint. Erstaunlich, daß dieser Recht-schreibfehler gleich 3 x
die Kontrolle des Lektorats passierte. * Mein Resümee: „Reise bis ans Ende der Nacht“ ist, bis auf das seltsame Vorwort,
ein bemerkenswertes, höchst empfehlenswertes Buch. Über ein Thema, über das bei
uns eine Vielzahl von Gerüchten existiert. (antiquarisch gekauft) *R.S.*
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