Ich
erhielt eine Antwort. Und einige Wochen später kam es zu einem Treffen, genauer:
zu einem Gespräch unter acht Augen. Die Runde bestand aus Frau Schwieger,
meinem direkten Vorgesetzten Guy „Lucky“ Stallmundt, Frau Kringel,
Bereichsleiterin Ost, und mir.
Ich
war sehr darauf bedacht, mir keine Blöße geben. Mit 60 darf man sich keinen Fehler
erlauben. Auf keinen Fall zu locker
auftreten! Deutlich sprechen ...
Meine
Zahn-Prothese klebte perfekt, ich war frisch rasiert, mein Hemd und mein
Schlips waren farbig aber unaufdringlich, meine Mütze saß gerade. Und ich auch.
Es
gab etwas zu trinken und Kekse. Ich entschied mich für Mineralwasser.
Frau
Schwieger kam schnell zur Sache.
„Herr Stallmundt“, dozierte sie, „wie kamen Sie nur auf die Idee, eine
vertraulich gemeinte Äußerung weiter zu geben? Hier liegt deutlich eine
Führungs-Schwäche vor. Sie scheinen ein wichtiges Prinzip unserer Firma noch
nicht begriffen zu haben. Ich möchte nicht, daß so etwas noch mal passiert. Das
gibt es bei uns nicht.“
Ich
fand Lucky als Chef einigermaßen oke,
auch wenn ich nicht mit allem einverstanden war. Nun tat er mir beinahe leid.
Er war knapp 30 Jahre jünger als ich, wollte noch hoch hinaus und wurde in
meiner Gegenwart, das heißt im Beisein eines Untergebenen, zusammengestaucht.
„Kann ich mich darauf verlassen, daß so
etwas nicht wieder geschieht?“
Lucky
antwortete leise und bedächtig. Er bestätigte die Einschätzung unserer
Geschäftsführerin, daß er einen schweren Fehler begangen habe.
Einen
Fehler machen – tut jeder. Aber einen Fehler „begehen“ – das war bereits ein
Delikt.
„Und
nun zu Ihnen, Herr Jähsinn.“ Frau Schwiegers rehbraune Augen fixierten
streng mein Bril-lengestell. Das war nicht mehr Pipi Langstrumpf, die beim
Termin mit den „Neuen“ ihren Kopf durch den Türspalt geschoben hatte. Eine mächtige Frau saß mir gegenüber, Herrin
über 800 Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter.
Frau
Kringel saß mit ausdruckslosem
Gesicht, einer Sphinx ähnlich, rechts von mir.
„Wieso glauben Sie eigentlich, daß Sie in
unserer Einrichtung mit Ihrer Arbeit richtig liegen?“
Frau
Schwiegers feine Nasenflügel bebten vor Empörung.
Ich
wollte ihren Satz nicht auseinander pflücken. Eigentlich hatte ich mit einer vagen
Entschuldigung gerechnet oder zumindest heimlich darauf gehofft. Jeder kann
sich mal irren und einen Menschen falsch einschätzen. Und man kann sich auf
lustige Art dafür entschuldigen. Ohne das Gesicht zu verlieren. Ist doch
menschlich, mal etwas zu streng zu sein. Nun war klar, daß es kein befreiendes
Lachen geben würde. Ich musste bis zu Ende schauspielern. Ich konnte doch nicht
sagen, daß ich die Situation unerträglich und zum Kotzen fand. Es handelte sich
hier um Mobbing, um den Versuch, mich sozusagen von höchster Warte aus von meinem
Arbeitsplatz wegzuekeln.
Ich riß
mich zusammen.
„Frau Schwieger, ich meine, daß ich hier
genau richtig bin. Ich kann mir keinen besseren Arbeitsplatz vorstellen. Er ist
mir sozusagen auf den Leib geschneidert. Die ganzen Umstände. Schon vor mehr
als 30 Jahren sammelte ich Erfahrungen mit geistig und körperlich behinderten
Menschen. Ich arbeitete in geschlossenen Häusern, damals als es die große
Anstalt noch gab. Ich studierte im Hauptfach Pädagogik, im Nebenfach
Psychologie, und legte mehrere Urlaubs-Semester ein, um den Kopf frei zu
bekommen von Wissenschaft und Theorie. Ich machte die Erfahrung, daß es mir
leicht fällt, Kontakt zu geistig Behinderten aufzubauen.“
Frau
Kringel sagte nichts. Sie saß
bewegungslos, schien nicht mal zu atmen.
Lucky
nippte an seinem Kaffee.
„Und weshalb haben Sie nach dem Studium eine
andere Laufbahn eingeschlagen, wenn Ihnen der Kontakt mit behinderten Menschen,
wie Sie behaupten, leicht fälllt?“
Ich
nahm einen Schoko-Keks.
Was
für eine Situation. Musste ich mich rechtfertigen, weil ich nach dem Studium fünfzehn Jahre als Puppenspieler durch
die Lande gezogen war?
Naja“, erwiderte ich. Ich wollte cool
wirken; bloß nicht emotionalisieren. Zwischen mir und einem tiefen Abgrund lag
nur eine Winzigkeit. Und ich war nicht allein mit der Geschäftsführerin. Sechs
Ohren hörten mit.
Es
hatte eben „einige Jahre gedauert“,
versuchte ich zu erklären, um zu meiner eigentlichen „Berufung“ zu finden, nämlich die Betreuung von Außenseitern und
Behinderten. Ich flunkerte ein wenig. „Berufung“ war ziemlich hoch gegriffen. Aber
irgendwo stimmte es auch. Ich habe tatsächlich feine Antennen für Außenseiter,
auch für geistig und körperlich behinderte Menschen. Ich spüre in
Nullkomma-nichts, wie die Machtverhältnisse sind.
Ich
möchte meine Leser und Leserinnen nicht mit der vollständigen Wiedergabe des
Gesprächs langweilen. Nur so viel noch: Frau Schwieger versuchte mich darauf
festzulegen, daß ich Künstler sei und in der Firma Kunst längst nicht mehr die
Rolle spiele, die sie „womöglich vor 30
Jahren“ innehatte. Sie hatte wohl mitbekommen, daß ich als Maler und
Bildhauer mich mit dem Thema Rollstuhl beschäftige.
Ich gab zu bedenken, daß ich Diplom-Pädagoge sei mit dem Schwerpunkt
„Außerschulische Jugendarbeit und Erwachsenenbildung“ und mich aufgrund
persönlicher Fähigkeiten, ganz abgesehen von meiner wissenschaftlichen
Qualifizierung, gut fühle an meinem Arbeitsplatz und meine Tätigkeit gerne
verrichte.
Es
gelang mir nicht, die Gedanken unserer Geschäftsführerin zu lesen. Wollte sie
einen Wutanfall bei mir erzeugen? Sie löste die Runde nach einer Dreiviertelstunde
auf und entließ mich mit den Worten: „Na, dann zeigen Sie mal, Herr Jähsinn, daß
Sie bei der AGSM am richtigen Ort sind“.
Die Namen der Personen sowie der Firma wurden geändert. *Robert Jähsinn*
Fortsetzung folgt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen