Montag, 8. Oktober 2012

Thomas Raab: Avantgarde-Routine

Das Vorwort „Noch eine Frage?“ ist so offensiv formuliert, daß ich mich überrumpelt fühle. Als sei ich ans Meer gefahren einer gewisser Beschaulichkeit wegen – aber dann fühl ich mich durch die Brandung überrollt. * Bei weiterer Lektüre gerate ich nach + nach in ruhigere Gewässer, das Thema bzw. die Themen Romantik und Avantgarde werden mir vom Autor Thomas Raab „nahegebracht“ – nicht in leicht konsumierbaren Häppchen, aber doch so, daß ich fasziniert bin und dem Autor in seinen Darlegungen neugierig folge. Raab reflektiert das Entstehen künstlerischer Avantgarde-Bewegungen, zu denen er (1860-1880) l’art pour l’art und den ‚Salon des Refuses’ , DADA (1900-1920) und Fluxus und Wiener Gruppe und Wiener Aktionismus (1950-1970) zählt. Die Sache ist um einiges komplizierter, als sich dies mit ein paar Sätzen und Headlinern wie l’art pour l’art, DADA usw. ausdrücken läßt. Raab gelingt es auf 91 Seiten, komplexes Geschehen spannend und ohne Substanzverlust rüber zu bringen. Mit der französischen Revolution begann in gewisser Weise die moderne Kunst –interpretiere ich- bzw. die gesellschaftlichen Voraussetzungen für sie wurden geschaffen. S. 33: „Zweifellos hängt dieses wilde Denken nach 1789 mindestens in Deutschland mit der Orientierungslosigkeit des neu entstehenden Bürgertums zusammen, das gleichzeitig Produzent und Publikum romantischer Gedanken ist. Die Romantik ist, anders als die Avantgarden seit 1860, die die romantische Utopie erben werden, „volksnah“. Ihre Utopie passt zum Aufstiegwillen der neuen Schichten. / In der Institution der „freien Kunst“, als Sammelbecken dieser Arbeitswilligen, die sich nicht auf den vorgegebenen Karriereweg zwingen lassen wollen oder von diesem abgedrängt werden, dürfen nach der Französischen Revolution Utopien das Erbe der Religion antreten. Der dergestalt „politisierte“ Mensch zögert jedoch noch, der Kunst „Autonomie“ zuzusprechen. ...“  Raab ver-bindet Kunstgeschichte und andere geisteswissenschaftliche Disziplinen mit Naturwissen-schaften (noch deutlicher spürbar in dem Buch „Nachbrenner“). Die zum Teil sehr abstrakten Gedanken und Hypothesen werden immer wieder konkretisiert bzw. durch Beispiele für mich als Leser anschaulich gemacht, indem etwa in bestimmten Passagen Namen von Künstlern genannt werden, mit denen ich etwas anfangen kann (Baudelaire, Flaubert, Artaud, Beuys, Duchamp uswusw). Nur an einer Stelle  denke ich 1 klein wenig anders. S.41 schreibt Raab von den „kybernetischen zukunftsvisionen in der verbesserung von mitteleuropa, roman von Wiener“. Wiener entwickelt, meine ich, modellhaft einen Apparat, der in gewisser Weise „materialisiert“ und konkretisiert, was unter Kybernetik zu verstehen ist (in letzter Konse-quenz), aber, denke ich, Wiener ist zugleich schärfster Kritiker der Kybernetik. Deshalb finde ich Raabs Interpretation „kybernetische Zukunftvisionen“ nicht ganz genau. Vielleicht inter-pretiere ich selber jedoch Oswald Wieners experimentelles Werk falsch/ungenau. * Wie auch immer ... Avantgarde-Routine ist ein Buch zum Lesen – und Weglegen – und erneuten Lesen. Mich regt es an, meinen eigenen Werdegang als Künstler aus einem anderen Blickwinkel zu sehen, Teile davon. Das Buch ist lebendig, weil Raab introspektiv forscht und „vorgeht“, d.h. sich sowohl mit sog. „objektiver Realität“ (unsere „Gesellschaft“) auseinandersetzt, und zugleich in sich selber schaut, sich selber beobachtet. Wie m.E. alle Künstler. Nur daß sie nicht so analysieren und beschreiben können bzw. wollen. * Ich empfehle das im Parodos-Verlag (isbn 978-3-938880-21-0) erschienene (Taschen-)Buch "Avantgarde-Routine" allen Künstlern und Kreativen, aber auch intelligenteren Leuten in radikalen Polit-Gruppen. Es enthält etliche Gedanken bzw. Thesen, denen nachzugehen sich lohnt.  Etwa die, daß es heute keine Avant-garde mehr gibt und geben kann.   *R.S.*  

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