Mittwoch, 16. September 2015

Katastrophismus

Die Katastrophen reißen nicht ab - humanitäre Katastrophen, Natur-Katastrophen, Bildungs-Katastrophen. Und wir Menschen sind immerzu damit beschäftigt, persönliche, soziale, politische usw. Katastrophen zu verarbeiten. Und unsere Medien sind immerzu damit beschäftigt, Katastrophen uns möglichst nahe zu bringen und publizistisch auszuschlachten. Künstler wiederum sind damit befasst, Katastrophen jeder Art ästhetisch zu verarbeiten.
Heute morgen gingen mir Bilder durch den Kopf, die einen 3-jährigen Flüchtlingsjungen betreffen, der ertrunken an einem Strand in Osteuropa aufgefunden wurde. In Marokko gab es eine Aktion, bei der 30 Leute, ähnlich gekleidet wie der Junge, den Körper am Strand liegend nachstellten. Eine Welle von Mitgefühl geht um die Welt. 
Mitgefühl reiche nicht, lese ich in der 10. Sept.-Ausgabe des FREITAG.  "Bilder können Mitgefühl wecken und die Stimmung ändern. Das allein reicht nicht" behauptet Georg Seeßlen. Er fordert, daß aus dem "Impuls der Solidarität ein kritisches Bewußtsein" erwachsen müsse. Der Autor beruft sich auf den italienischen Philosophen Giorgio Agamben und dessen Begriff vom "homo sacer". Lt. Wikipedia ist ein "homo sacer" ein Mensch, der als "vogelfrei" gilt und "straffrei getötet werden" dürfe. Gleichzeitig sei dieser Mensch "heilig". Von diesen homini saceri sind, wenn man die Definition annimmt, derzeit zig-Millionen auf der Erde unterwegs: Flüchtlinge.
In diesem, aber auch in vielen anderen Kommentaren, die auf die Fähigkeit zu Empathie und Betroffenheit abzielen, vermisse ich auch nur den leisesten Hinweis darauf, daß der Mensch ein zu Empathie fähiges Wesen ist, der aber durch die täglichen Appelle an diese Eigenschaften und das kontinuierliche Überschwemmtwerden mit Gräuelbildern irgendwann überfordert ist. 
Fukushima, Syrien, Irak, die Flüchtlings-Katastrophe - es gibt keinen Tag, keine Stunde und Minute, in denen nicht Berichte über schlimme, tragische Ereignisse gemeldet werden.
In Deutschland gibt es eine gut funktionierende Betroffenheits- und Katastrophen-Industrie. Der deutsche Gutmensch definiert sich vor allem über Betroffenheit und Empathie. 
Auffällig ist, daß bestimmte Reaktionen und moralische Appelle und Forderungen fast ausschließlich durch Katastrophen in fernen Ländern ausgelöst werden. 
                   
                                                                                                                                *RS*
 

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