Daß wir Bewegungsfreiheit haben und viele davon Gebrauch machen, ist zweifellos so. Die Frage lautet jedoch: WOHIN bewegen sich Menschen? Und: Woher nehmen sie die KRAFT zur Bewegung?
In ihrem Essay "...und sie bewegen sich doch!" (IBA-Buch "Kreativität trifft Stadt" S. 212-220) sprudelt es aus der Autorin nur so heraus. Den überaus lockeren Erzählstil, die Eloquenz und geschliffene Sprache lernte ich bereits anderswo kennen (siehe früherer Blog). Hier werden schwergewichtige Inhalte mit Leichtigkeit zu einer brillanten journalistischen Arbeit inein-ander gefügt. Wie eine Zauberin fischt Adrienne Göhler am Ende ihrer überbordenden, insgesamt gutsortierten Argumentationsketten ein Lieblingsthema aus dem Ärmel: Das "be-darfsunabhängige, bedingungslose Grundeinkommen". Die Forderung nach dieser Grund-sicherung, die sie als "Gegenentwurf zu Hartz IV" und zu "Scham und Würdelosigkeit" bezeichnet, rückt die Autorin in ein überaus sympathisches Licht. Nur: Es hapert dabei mit der Logik.
A.G. argumentiert von einem "Kreativitäts"-Begriff aus, der einer strengeren Prüfung nicht standhält. Sie behauptet (S. 219): "Denn Existenzangst ist die große Gegenspielerin der Kreati-vität". Es gibt eine ganze Reihe Beispiele aus der Kunst- und Kultur-Geschichte, die eher für das Gegenteil plädieren: Daß nämlich Existenzängste Energien freisetzen und geradezu ein Motor für Kreativität sein können. Die Lebensgeschichte von van Gogh ist bestens bekannt; auch Michelangelo, Strindberg, Artaud sind Beispiele von Menschen, die gerade durch Krisen hindurch zu besonderer Kreativität angespornt wurden. Auch Josef Beuys, der in jungen Jahren eine Zeit in der Psychiatrie verbrachte, und Niki de Saint Phalle, die als junge Frau in einer Nervenklinik untergebracht war und trotzdem (oder: gerade deshalb?!) ein phantastisch-großartiges Frühwerk schuf, weisen in eine andere Richtung. Sie belegen, daß (Existenz-)Ängste und persönliche Krisen Kreativität nicht verhinderten oder erstickten, sondern, im Gegenteil, beförderten. Ich möchte nicht dogmatisch werden und behaupten, daß Kreativität ohne Exis-tenzängste nicht entstehen kann. Ich meine jedoch, daß die Autorin es sich zu einfach macht. Bereits auf S. 212 argumentiert sie in einer Weise, die verführerisch und tendenziös vereinfa-chend ist: "Der Feind jeglicher kreativen Veränderung von Gesellschaft ist das Denken in Standard- und Ewigkeitslösungen, das Denken entlang der Machtlinien von getrennten, erstarrten Ressorts, Ordnungen und Hermetiken ..." Das stimmt zwar irgendwie - aber gleichzeitig ist bemerkenswert, wie es Menschen immer irgendwie gelingt, erstarrtes Denken, verkrustete Macht-Apparate und Betriebe aufzubrechen. Dies ist gerade das Wesen von Kreati-vität: Trotz der Widerstände und Ignoranz einer auf bewohnten Bahnen verharrenden Gesellschaft schöpferisch zu werden. * Leider redet A.G., wie übrigens auch Richard Florida (zuletzt "Reset", Campus-Verlag), auf den sie sich bezieht, gerne abstrakt von "Kreativität", ohne ihr Augenmerk auf Menschen zu richten, die in beispielhafter Weise auf diesem Gebiet tätig sind oder waren. Die Autorin paßt, auch wenn sie sich scheinbar gegen Städtebauplanung von Oben wendet (S.220: "... daß das bedingungslose Grundeinkommen ein interessanter Beitrag gegen Gentrifizierung sein könnte"), perfekt zur IBA. Dort macht sich nämlich auch niemand die Mühe, sich eingehender mit der Vita, den Idiosynkrasien, den selten normaler Logik folgenden Biografien von Künstlern zu befassen. Dort suchen sie sich das heraus, was bequem in ihr Kalkül paßt: Vorzeigbare Produkte, kompatible Künstler - der Rest: Alles Prob-lematische, Ungeglättete wird einfach totgeschwiegen, unter den Tisch gekehrt. *R.S.*
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