Von August 1968 bis Januar 1970 schrieb der italienische Schriftsteller wöchentliche Kolumnen für die Zeitung "Tempo". Die in dem Buch "Chaos" abgedruckten Artikel dieser Kolumnen-Serie zeichnen sich nicht durch Aktualität aus. Trotzdem lese ich sie hin und wieder. Sie bestehen aus einem Stoff, der heute selten ist. Pasolini stemmte sich mit aller Leidenschaft, Esprit, Dickköpfigkeit und Verzweiflung gegen die kulturelle Katastrophe, die sich nach seiner Einschätzung damals in Italien abzeichnete: Der Sieg des Konsumismus und Konformismus über jahrhundertealte Traditionen und kulturelle Erscheinungsformen. Die Anlässe, die der Autor herauspickte, waren Tagesmeldungen, persönliche Erfahrungen und sich abzeichnende gesellschaftliche Tendenzen, die er analysierte und polemisch überspitzt zur Sprache brachte. Pasolini wusste, was er tat. Er war sich darüber im Klaren, daß er sich Woche für Woche weit "aus dem Fenster lehnte" (um es mit einem in hiesigen Breiten geläufigen Bild zu sagen), eigentlich ZU weit - gemessen an dem, was eine immer mittelmäßiger werdende Öffentlichkeit als "normal" und akzeptabel goutierte. Der Moralist und Tabubrecher, Marxist (: viele Jahre Anhänger der KPI), kritisierte auch und vor allem den Konformismus einer sich revolutionär gebärdenden Linken. Pasolini war längst eine internationale Berühmtheit, hatte aber offenbar nichts zu verlieren. Diese Artikel, die zum Widerspruch herausfordern, sind vorbildlich in ihrem geistigen Extremismus und bedingunsglosen Eintreten für Meinungsfreiheit. * "Chaos" erschien 1988 im Piper-Verlag; 208 Seiten; isbn 3-492-10783-4. Ich hüte das Buch wie eine Perle. *R.S.*
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